Valancy Stirling ist 29, unverheiratet und lebt noch Zuhause – heutzutage kein Thema, aber Anfang des 20. Jahrhunderts bringt ihr das den Unmut ihrer Familie ein. Bei jeder sich bietenden Gelegenheit wird Valancy daran erinnert, keinen Verehrer bislang gehabt zu haben und unweigerlich als alter Jungfer enden zu müssen, und auch ansonsten stellt sie die Familie gerne bloß oder nutzt ihre Gutmütigkeit schamlos aus. Valancys einzige Zuflucht ist ihr blaues Schloss, ein Ort, den sie in ihren Tagträumen besucht und frei nach ihren Wünschen und Bedürfnissen gestaltet. Wie sie diesen Tagtraum vielleicht in die Realität holen und ihren eigenen Weg finden kann, davon erzählt Lucy Maud Montgomery in Das Schloss in den Wolken.
Bereits von der ersten Seite an habe ich Valancy ins Herz geschlossen. Der Leser begegnet ihr das erste Mal am morgen ihres 29. Geburtstags und ihr Leben macht auf sie selbst einen tristen Eindruck. Alles folgt dem immer selben Trott mit keiner Veränderung in Sicht, was die Aussicht auf ein weiteres Jahr nach dem gleichen Schema wie die davor unerträglich für Valancy macht:
Was für einen Grund hatte man denn, überhaupt aufzustehen? Ein weiterer öder Tag, öde wie alle vorangegangenen Tage, voller sinnloser kleiner Aufgaben, die keine Freude machten und für niemanden von Bedeutung oder Nutzen waren. | S. 22
Dank ihrer ruhigen, introvertierten Art und den teils doch bissigen Gedanken konnte ich mich leicht in Valancy hineinversetzen, und war gespannt darauf, wie sie sich im Verlauf der Handlung entwickeln würde. Denn durch eine unerwartete Nachricht wird Valancy zu Beginn sprichwörtlich der Boden unter den Füßen weggerissen, und sie muss sich entscheiden: Nutzt sie die Chance, um ihr Leben zu ändern, oder steckt sie den Kopf in den Sand? Dabei ist es immer wieder undefinierbare Angst, gegen die sich Valancy im weiteren Verlauf stellen muss – und das ist eine der stärksten Botschaften des Buches: Klar hat Angst ihre Berechtigung, nur wie viel Zeit verbringen wir damit uns zu sorgen und den Kopf über Dinge zu zerbrechen, die vielleicht nie eintreten werden? Wie häufig lähmt uns Angst oder führt zu Gedankenspiralen? Wäre es nicht viel besser, einfach mal Dinge zu wagen oder Probleme aus einer positiven Perspektive anzugehen, ohne sich sofort das eigene Versagen in schillernden Farben auszumalen?
Warum hatte sie immer Angst gehabt? Des Lebens wegen. […] Doch nun musste sie das nicht mehr. Ein sonderbares Gefühl von Freiheit ergriff Valancy. | S. 66
Sei es, dass sie ihren Verwandten endlich mal die Meinung geigt, ihre Haare kurz schneidet oder eine andere Kirche besucht – Valancy springt in Das Schloss in den Wolken in sehr vielen Bereichen über ihren Schatten, und bricht mit den Konventionen und Vorstellungen ihrer Zeit. Dabei laufen vielleicht einige Dialoge oder Momente zu einfach ab, was mich aber nicht zu sehr gestört hat. Der Fokus liegt eben auf Valancy Entwicklung, und dieses leicht tagträumerische Element hat einfach perfekt zu der Geschichte gepasst.
Obwohl fast hundert Jahre seit der Erstveröffentlichung vergangen sind, liest sich Das Schloss in den Wolken recht zeitgemäß. Montgomery zeigt durch verschiedenste Momente, was die damalige Gesellschaft von einer Frau erwartet hat bzw. welche Regeln es allgemein einzuhalten gab, sodass man ohne Schwierigkeiten versteht, warum Valancys Taten dann auf einmal so verstörend auf ihre Umwelt wirken. Nebenbei macht Montgomery ihren Lesern regelrecht Mut, es ihrer Protagonisten gleichzutun, und durchzieht die Geschichte durchweg mit Hoffnung. So wenig Valancys Leben mit 29 Jahren schon in Stein gemeißelt ist, so wenig ist das des Lesers und manchmal bedarf es einfach des radikalen Stutzens, um einen Rosenbusch wieder zum Blühen zu bringen. Man darf nur nicht den Kopf in den Sand stecken!
Weitere Eindrücke zum Buch findet Ihr bei Nightingale’s Blog, Katrineverdeen und Bella’s Wonderworld.
BUCHDETAILS | ANZEIGE
GEBUNDENES BUCH: 368 SEITEN | EINZELBAND | ORIGINALTITEL: THE BLUE CASTLE | ÜBERSETZT AUS DEM ENGLISCHEN VON NADINE PÜSCHEL | VERLAG: KÖNIGSKINDER (24.04.2015) | ISBN: 978-3551560148 | FÜR LESER AB 14 JAHREN EMPFOHLEN | MEINE BEWERTUNG: 5/5

