Auf den Spuren einer Mörderin: Alias Grace von Margaret Atwood

True Crime fasziniert nicht erst dank unzähliger Podcasts die Menschen sondern schon seit jeher. Was veranlasst Menschen zu ihren Taten, wer ist schuldig, wer nicht und wie geht die Gesellschaft damit um? Genau diese Fragen betrachtet auch Margaret Atwood in ihrem Roman Alias Grace, der auf realen Begebenheiten basiert: 1843 wird die Magd Grace Marks in Kanada für den Mord an ihrem Arbeitgeber Thomas Kinnear und seiner Haushälterin Nancy Montgomery zum Tode verurteilt. Drei unterschiedliche Geständnisse hat Marks abgegeben, handfeste Beweise gibt es nicht – nur die Frage, was wirklich in diesem Sommer im Kinnear Haushalt geschah. 

Margaret Atwood: Alias Grace

Eine mögliche Antwort darauf versucht Atwood in ihrem Roman zu geben, und ich mochte die Herangehensweise sehr. Mark’s Strafe wird -wie auch in der Realität- in eine lebenslange Haft umgewandelt, und es gibt immer wieder Versuche mit Petitionen und ähnlichem ihre Begnadigung zu erwirken. Atwood lässt einen (fiktiven) Arzt, der wie ein Vorläufer eines Psychiaters daherkommt, Gespräche mit der verurteilten Mörderin führen und lässt Marks so peu à peu ihre Lebensgeschichte erzählen. Dadurch wechselt Atwood immer wieder die Zeit- und Erzählstränge, und benutzt Patchworken als ein Leitmotiv. Grace Marks arbeitet an verschiedenen Quilts während ihrer Erzählung, die einzelnen (Buch-)Abschnitte sind mit Motiven aus diesen unterteilt und so fügt sich nach und nach alles zusammen: Man lernt von der Kindheit in Irland und der Emigration nach Kanada, den unterschiedlichen Anstellungen als Magd, wie die Häuser zu dieser Zeit aufgebaut sind und welche Pflichten jemand wie Grace erfüllen musste – bevor schlussendlich die Zeit bei Kinnear und alles danach zur Sprache kommt.

“When you are in the middle of a story it isn’t a story at all, but only a confusion; a dark roaring, a blindness, a wreckage of shattered glass and splintered wood; like a house in a whirlwind, or else a boat crushed by the icebergs or swept over the rapids, and all aboard powerless to stop it. It’s only afterwards that it becomes anything like a story at all. When you are telling it, to yourself or to someone else.” | Seite 345-346

Alias Grace war nicht das erste Buch, welches ich von Atwood gelesen habe, und daher weiß ich bereits das ihre Geschichten immer recht gemächlich starten und Zeit benötigen. Klar wollte ich am liebsten sofort zur eigentlichen Tat springen und hierüber alles erfahren, aber Atwood will nicht nur schockieren, sondern eben auch das warum, wieso, weshalb? hinter der Tat ausloten. Bis die Gespräche starten, dauert es daher erst mal einige Seiten, in denen wir als Leser in Grace‘ Kopf schlüpfen und ihre derzeitige Situation nach gut 15 Jahren Haft erleben. Generell mochte ich es wie Atwood Grace und ihre Sicht schreibt, und wie schwer man sie trotzdem durchschauen kann. Manipuliert Grace ihre Erzählung, um so auch den Arzt zu manipulieren? Ist sie das Opfer ihrer Mitmenschen oder vielleicht psychisch krank? Für jeden Ansatz gibt es Hinweise, aber nie fällt Atwood ein Urteil – und vielleicht mochte ich Alias Grace deswegen so sehr, weil man als Leser zu einem eigenen Schluss kommen muss statt alles auf einem Präsentierteller vorgelegt zu bekommen. 

Bevor ich den Roman gelesen habe, habe ich die Miniserie zu Alias Grace gesehen und ich finde, dass diese hier tatsächlich eine gute Ergänzung zum Roman darstellt. Gerade die Beziehung mit Mary finde ich in der Serie greifbarer, während sich natürlich im Roman mehr das Innenleben von Grace widerspiegelt und man dort auch mehr Kontext zum Arzt erhält. Egal zu welchem Medium man aber greift: Alias Grace lohnt sich. Die Geschichte verbindet True Crime mit einer fiktiven Autobiografie, die Einblick in das Leben von Frauen vor etwas mehr als hundert Jahren gibt und dabei zeigt, wie zeitlos und relevant viele der angesprochenen Themen immer noch sind. Am Ende muss man nur selber entscheiden, ob man Grace Marks verdammen mag oder nicht.

 


Weitere Eindrücke zum Buch findet Ihr bei Ricy’s Reading Corner und schiefgelesen.


BUCHDETAILS | ANZEIGE

TASCHENBUCH: 560 SEITEN | VERLAG: VIRAGO (22.08.2019) | ISBN:  978-0349013077 | MEINE BEWERTUNG: 4.5/5

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