Gelesen | Anna Karenina von Leo Tolstoy

Anna Karenina, das ist zum einen einer der bekanntesten russischen Klassiker und zum anderen einer der Titel des 19. Jahrhunderts, in denen der Ehebruch durch eine Frau im Fokus steht. Mit knapp 1000 Seiten ist das Buch aber noch viel mehr als nur eine tragische Liebesgeschichte: Vielmehr begleitet man als Leser mehrere Familien über gut vier Jahre, die alle zwar durch die Entscheidungen von Anna beeinflusst werden, aber deren Leben noch durch diverse weitere Faktoren zwischen Glück und Unglück schwanken.

Leo Tolstoy: Anna Karenina

Gut zwei Wochen habe ich mit den Charakteren in Anna Karenina mitgefiebert, gelitten und gelacht, und es ist definitiv eine der größten Stärken Tolstoys einem diese Personen so lebendig zu machen! Wüsste ich es nicht besser, würde ich sofort glauben hier nur Mäuschen bei realen Ereignissen zu spielen. Alle Charaktere sind vielschichtig und entwickeln sich mit der Zeit, und daneben wechselt die Perspektive immer mal wieder, sodass man ein gutes Verständnis für jeden entwickeln kann. Das ist auch wichtig, den entgegen dem, was der Titel vielleicht vermittelt: Anna Karenina ist NICHT die Hauptfigur. Tatsächlich braucht es über dreißig Kapitel bis sie das erste Mal auftritt, und auch danach sieht man sie nur recht wenig. Ihre Entscheidung sich auf eine Affäre einzulassen und dadurch ihrer tristen, unglücklichen Ehe zu entfliehen, schlägt allerdings durch das gesamte Buch hinweg Wellen.

Was man Anna nämlich vorwerfen kann ist, dass sie ihren Ehebruch nicht vertuscht oder als kurze Zerstreuung abtut. Diverse Personen halten es nicht wirklich mit der Treue, gerade einige der Männer, aber keiner steht so zu dieser Tat wie Anna und wird von der Gesellschaft so abgestraft dafür. Es gelten fundamental unterschiedliche Regeln für Mann und Frau in jener Zeit, und Anna hält sich an keine davon. Das kann man verteufeln, damit sympathisieren oder einfach versuchen nachzuvollziehen – und wie der Leser, so müssen auch die anderen Charaktere sich damit auseinandersetzen.

„I always loved you, and if one loves, one loves the whole person as he or she is, and not as one might wish them to be.“ | S. 723

Geldsorgen, erster Liebe, Anstellungen, Bälle, Haushaltsführung, Landverwaltung, Kindererziehung, Glauben, Militär und und und… jeder Charakter und jede einzelne Familie hat ihr ganz eigenes Päckchen zu tragen. Durch ihr Zusammenspiel gib Tolstoy einem einen Einblick in die adelige Gesellschaft Moskaus und St. Petersburgs der 1870er Jahre und manchmal verblast Annas Ehebruch fast hinter den alltäglichen Sorgen der anderen. Dabei fand ich vor allem die Frauenfiguren super interessant, gerade die beiden Schwestern Dolly und Kitty. Die eine sucht eine gute Partie und ist voller Naivität und Vertrauen in die Liebe, während die andere durch ihre Ehe fast schon desillusioniert und pragmatisch ist. Tolstoy nutzt solche Spiegelungen und Parallelen immer wieder, wodurch man auch gut sieht, wie viel von der jeweiligen Persönlichkeit und Umständen abhängt wie Charaktere mit Situationen umgehen.

Zwei Kritikpunkte möchte ich allerdings nicht unerwähnt lassen: Längen und Annas Entwicklung. Wie in Krieg und Frieden nutzt Tolstoy auch Anna Karenina, um seine eigenen Ansichten darzulegen, vor allem, was Landwirtschaft angeht. Dadurch gibt es Kapitel, die nicht wirklich zur Handlung beitragen und das Buch unnötig aufplustern. Teilweise hilft das zwar, um die Charaktere realistischer erscheinen zu lassen, aber so einige Kapitel hätte man trotzdem straffen oder ganz kürzen können. Anna und ihre Beziehung zu Vronski fand ich unglaublich faszinierend, aber sie kippt irgendwann und für mein Empfinden verbringen wir als Leser zu wenig Zeit mit den Beiden, um das komplett nachvollziehen zu können. Gerade eine Entscheidung von Anna kommt etwas aus dem Nichts?

Von Tolstoys beiden Hauptwerken mochte ich zwar Krieg und Frieden einen Ticken mehr, aber ich glaube, das Anna Karenina zugänglicher ist. Zum einen, da man hier die Charaktere nach und nach erst kennen lernt und es eine überschaubare Anzahl bleibt, zum anderen, weil das Buch in sich in 8 Teile geteilt ist und alle Kapitel sehr kurz sind. Das wäre auch mein Tipp, falls einen das Buch als erstes in seiner Länge abschreckt: Markiert Euch diese 8 Abschnitte und lest nicht gegen die Gesamtseitenzahl an. Damit ist Anna Karenina gar nicht mehr so unbezwingbar, und es lohnt sich! Jeder wird in dieser Geschichte einen Handlungsstrang für sich finden, die behandelnden Themen sind immer noch aktuell und nicht ohne Grund hat es einen der berühmtesten ersten Sätze: ‚All happy families resemble one another, each unhappy family is unhappy in its own way.‘ (dt. „Alle glücklichen Familien gleichen einander, jede unglückliche Familie ist auf ihre eigene Weise unglücklich.“ )


Weitere Eindrücke zum Buch findet Ihr bei Pink Anemone und Julias Sammelsurium.


BUCHDETAILS | ANZEIGE

TASCHENBUCH: 963 SEITEN | VERLAG: VINTAGE CLASSIC (05.01.2017) | ISBN:  978-1784871956| MEINE AUSGABE IST TEIL DER VINTAGE CLASSIC RUSSIANS SERIES | MEINE BEWERTUNG: 4/5

7 Gedanken zu “Gelesen | Anna Karenina von Leo Tolstoy

  1. Ich bin ja fürchterlich neugierig, aber: Was war denn die Intention dahinter, das Buch in der englischen Übersetzung zu lesen? Das russische Original hätte ich verstanden, sofern man der Sprache mächtig ist, aber … :-)

    • Die Intention ist fast schon langweilig… weil ich die Ausgabe einfach da hatte >-<
      Ich habe mir vor ein paar Jahren die gesamte Vintage Classics Russians Series gekauft (da eigentlich primär weil ich Krieg und Frieden in dieser so schön fand und diese Reihe einfach ästhetisch komplett meinen Geschmack trifft), und ich möchte über kurz oder lang noch die restlichen Bände der Reihe lesen. Bei Anna Karenina habe ich anfangs auch in eine deutsche Übersetzung reingelesen, aber da fand ich die Sprache etwas hölzern? In der Muttersprache fällt einem das wirklich viel stärker auf als in einer anderen.

  2. Hallo Janine,

    ich habe über das #Litnetzwerk deinen Blog gefunden und finde ihn wirklich toll. Ich bin dir mal direkt gefolgt.

    Ich las vor ca. 2 Jahren „Krieg und Frieden“ was mir sehr gut gefiel. „Anna Karenina“ habe ich noch nich gelesen, aber da möchte ich mich auf jeden Fall noch dran machen. Aktuell lese ich als Klassiker „Der Graf von Monte Christo“, aber da bin ich noch nicht so weit.

    LG
    Elisa

    • Hallo Elisa,
      da hast du mit dem ‚Graf von Monte Christo‘ aber auch ein echtes Klassikerschwergewicht erwischt! Lässt sich das gut lesen?
      Wenn du ‚Krieg und Frieden‘ mochtest, dann ist ‚Anna Karenina‘ bestimmt auch was für dich. Der Stil ist sehr ähnlich, wobei du eine kleinere Gruppe an Familien bzw. Personen verfolgst und so anfangs nicht zu verloren bist.

      Liebe Grüße ♥

      • Ich lese den Graf auf Monte Christo auf Französisch, was ich zwar ganz gut kann, aber es um einiges schwieriger macht. Ich brauche auch sehr lange beim Lesen. Dennoch finde ich, dass die Sprache nicht zu schwer gehalten ist. Ich glaube es gibt einige deutscher oder englische Texte aus der Zeit, die schwirieger geschrieben sind.

        LG
        Elisa

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