Rezensionsexemplar | „Alles, was ich weiß, ist, dass ich kein Marxist bin.“ – was eine Aussage von dem Mann, der dem Marxismus seinen Namen gab! Und irgendwie zeitgleich paradox, denn für die meisten dürften Karl Marx und der Marxismus eng miteinander verbunden sein. Den Weg der Marx’schen Lehre hin zum -ismus, arbeitet Christina Morina anhand eines Gruppenporträts unter anderem in ihrem Buch Die Erfindung des Marxismus. Wie eine Idee die Welt eroberte heraus, welches auf ihrer 2016 eingereichten Habilitationsschrift beruht.

Morinas „Hauptpersonen“ sind neun Intellektuelle, die sie zur „geistigen Gründergeneration des Marxismus“ (S.10) zählt: Karl Kautsky, Eduard Bernstein, Rosa Luxemburg, Victor Adler, Jean Jaurès, Jules Guesde, Georgi W. Plechanow, Wladimir I. Lenin und Peter B. Struve.
Die Auswahl der neun Protagonisten ergibt sich aus den ideengeschichtlichen Gewicht ihrer Schriften und Reden, aus ihrer Rolle bei der popularisierenden Übersetzung und Verbreitung des Marx’schen Textkorpus in Deutschland, Österreich, Frankreich und Russland zwischen 1870 und 1900 sowie aus ihrem Selbstverständnis als „marxistische Intellektuelle“. | Seite 13
Diesen Neun begegnet man im Laufe des Buches immer wieder, wobei dieses sich neben Prolog und Schluss in drei aussagekräftige Teile mit entsprechenden Unterkapiteln splittet: Sozialisation, Politisierung und Engagement. Diese drei Unterkapitel ergeben sich dabei aus dem „Zusammenhang von Weltaneignung, Weltanschauung und politischer Praxis“ (S. 476) in den jeweiligen Lebensläufen, die obgleich verschieden auf Gemeinsamkeiten beruhen (z. B. erfahren alle eine starke Förderung durchs Elternhaus). Mich haben hier vor allem die Personen fasziniert, deren Namen und Wirken einem nicht sofort präsent sind wie etwa Karl Kautsky.
Das Gute an Die Erfindung des Marxismus ist, dass man als Leser selber wählen kann, wie man sich dem Text annähert. Die Kapitel können für sich gelesen werden oder regulär hintereinander weg, und sind auch für Laien gut erschließbar. Durch den Ansatz, sich der Entstehung des Marxismus über die Biografien einzelner Persönlichkeiten anzunähern, wird die Faszination mit der Marx’schen Lehre verständlich. Denn was hat „Marx als Person und Denker, historisch gesehen, so einzigartig und wirkmächtig“ (S. 11) gemacht? Wie konnte aus dem Studium dieser eine Weltanschauung entstehen, die maßgeblich das 20. Jahrhundert mit prägte? Diesen Fragen geht Morina nach und stellt zudem in ihrem Schlussteil noch verschiedene Formen der Interpretation von Marx (Entdecker-Erleuchter-Erbauer) kurz da, welche ich ebenfalls sehr spannend fand. Genauso empfand ich die Einteilung in Feldforscher, Bücherwürmer und Abenteuer, was das (politische) Engagement der Neun anbelangt, ein tolles Bild, welches dem Verständnis ungemein hilft. Generell bringen Prolog und Schluss noch einmal die Gedanken und Erkenntnisse gut auf den Punkt, und man merkt, dass das Buch auf einer wissenschaftlichen Arbeit basiert.
Ein wenig reißerisch ist der Titel dieses Sachbuches schon, denn wirklich „erfunden“ wurde der Marxismus nicht, und die Biografien beziehen sich eher auf einen Teil Europas als die ganze Welt. Als einen Ausgangspunkt bzw. neuen Ansatz der Marxismus-Forschung ist das Buch unglaublich spannend und lesenswert – man muss nur das entsprechende Interesse und teils Ausdauer für die knapp 500 Seiten Text mitbringen.
Weitere Eindrücke zum Buch findet Ihr bei Sabine Hollewedde und Gedankenteiler. Zum 200. Geburtstag von Karl Marx erscheinen mehrere Beiträge auf meinem Blog. Eine Übersicht über alle Beiträge findest du H I E R.
